Als Lehrerin habe ich im Berliner Schulsystem innerhalb meiner 7-jährigen Lehrertätigkeit
alle Bereiche kennengelernt: unterschiedliche Schulformen (Grundschule, ISS, Gymnasium) und
verschiedene zu unterrichtende Fächer (Deutsch, Mathe, Ethik, Naturwissenschaften, Sport
neben studierter Fächerkombination Französisch, Latein). Meine Homosexualität verbarg ich nach dem Referendariat nicht mehr.
In meinem Referendariat in Berlin wurde von der Hauptseminarleitung dazu geraten, die eigene Homosexualität mit der Schulleitung abzusprechen.
Ich verstand nicht warum, also verbrachte ich meine Referendariatszeit in gesellschaftlicher Dunkelheit, unauthentisch,
schweigend bei der allgemeinen bindungsstiftenden Schülerfrage nach einem Partner oder eigenen Kindern. Anekdoten über
meine sportlichen, außerschulischen Aktivitäten oder meinen bevorzugten Musikgeschmack konnten dem verständlichen
Wunsch nach Ausrichtung eines fremden Erwachsenen an der eigenen Lebenswelt nicht nachkommen. Es geht nicht primär bei
solchen Fragen um mein Privatleben, vielmehr versuchen junge Menschen einen Erwachsenen vergleichend in ihre Lebenswelt zu positionieren,
d.h. im Vergleich zu ihren Eltern oder älteren Verwandten zu setzen. Da sie meinen Job bereits kannten, blieben nur noch die Themenbereiche
Partner und Kinder, mittlerweile auch Auto und Wohnung. Ehrlicherweise muss man jedoch sagen, dass das Referendariat nicht nur berufliche
sondern auch charakterliche Höchstleistungen von jedem verlangte. Ich hätte - aus heutiger Perspektive - neben den ganzen Baustellen
des Unterrichtens, Vorbereitens, Evaluierens und Korrigierens und der Suche nach dem eigenen Lehrerstil für eine weitere Aufgabe keine
Kapazitäten gehabt. Also verschob ich mein 'Outing' in die Berufsanfängerphase.
An der nächsten Schule merkte ich schnell, dass mir etwas fehlte: Authentizität. Besonders beim Unterrichten von Sexualkunde
fiel es mir immer schwerer alle paar Minuten der Frage nach einem Partner ausweichen zu müssen. Ich hatte keine Lust mehr auf Minesweeper.
Also beschloss ich das Versteckspiel zu beenden und erwähnte ganz beiläufig meine noch damalige Freundin, heute Frau. Das war an einer
Berliner Brennpunktschule. Die Reaktionen auf Schülerseite fielen ganz unterschiedlich aus: Stille, Langeweile, Hyperaktivität,
Verarbeitung, die offen dargestellte Auseinandersetzung „Sie sind super, deshalb dürfen sie das nicht sein“… Ich gab meinen Schülern
n Sexualkunde immer zu Beginn des Unterrichtsthemas die Möglichkeit mir 5 Minuten Fragen zu stellen. Ob ich die Fragen beantworte
oder nicht, lag ganz in meinem Ermessen. Manchmal waren sie spannend, manchmal unerwartet in der Durchdringung meiner Lebenswelt
und manchmal gelangweilt am Klischee ausgerichtet.
Als ich das zum ersten Mal tat, war bei manchen Schülern der Schock an einer Berliner Grundschule sehr groß. Als ob ich mich inkognito
als Parasit in ihre Lebenswelt eingeschläust hätte. Sie verkrafteten den Schock bei ihren selbst gewählten Vertrauenslehrern, um das
plötzlich im Schulalltag freigesetzte Adrenalin von der Seele zu sprechen. Eine Reaktion, die ganz normal ist, wenn man bedenkt, dass ich der
erste Mensch in ihrer Umgebung war, der nicht der sogenannten Norm entsprach. Die Tatsache, dass meine Schüler auch 11 Jahre alt waren, sollte man
dabei verschweigen. Der erste Kontakt mit einer anderen Lebensform nach 11 Jahren. Schwierig! Mit dieser Öffnung begann meine schönste Zeit als
Lehrerin, in der ich authentisch sein konnte und mich nicht mehr verstecken musste. Die beste Reaktion ließ nur wenige Minuten auf sich warten.
Eine ältere Kollegin (Vertrauenslehrer meiner damaligen aufgeregten Schüler) kam in der Hofpause an meinem Klassenzimmer vorbei und sagte mir: „Ich
finde das gut. In meinem Alter mache ich das aber nicht mehr“. Offene Anfeindungen erhielt ich weder vom Kollegium noch von den Schülern, was ich
besonders in der Schülerwelt darauf zurückführe, dass es leichter ist eine Frau männlichere Eigenschaften zuzuschreiben als einem Mann vermutlich
weiblichere Eigenschaften. Genau deshalb ist es umso wichtiger, dass Menschen mit ähnlicher Lebensweise und Mut für Sichtbarkeit einstehen. Nur so
lässt sich das Gesellschaftsbild verändern. Es folgten der alles sagende Schülerblick und das zaghafte Nachfragen eines mir unbekannten Schülers, ob
ich die Frau Wiesemann wäre. Selbst als Schülerin hätte ich mir gewünscht zu wissen, dass ich nicht allein bin und genauso viel Wert wie alle anderen.
Ein toller Nebeneffekt war die verminderte Frequenz von Schimpfwörtern in meiner unmittelbaren Umgebung, was ich als ersten Bewusstseinswandel unter meinen
Erfolg verbuchte.
Was ich mir für unsere Gesellschaft wünsche, ist mehr Authentizität und die Übernahme von Verantwortung für die nächste Generation. Am besten beschreibt
dies eine Reaktion einer Mädelstruppe auf die Frage an mich, wen ich besser finde…es waren zwei Schauspieler…Ich antwortete nur mit hochgezogenen
Augenbrauen. Ie Reaktion folgte prompt: „Ach sie sind ja anders“. Ohne Vorwurf, ohne Meinungsbild, einfach nur wahrnehmend, dass ich diese Frage
nicht in ihrer Zielvorstellung beantworten werde können.
Einfach nur Anders!